Einem Mann namens Gerhard gefällt eine Frau namens Susanne. Er fragt
sie, ob sie ins Kino gehen will, sie sagt ja, und beide verbringen einen
sehr lustigen Abend.
Ein paar Tage später lädt er sie zum Abendessen ein, und sie haben
wieder viel Spass. Fortan treffen Sie sich regelmässig, und nach einiger
Zeit trifft sich keiner von beiden mit irgendjemand anders mehr.
Eines Abends, als sie nach Hause fahren, schiesst ein Gedanke durch
Susannes Kopf, und, ohne richtig drüber nachzudenken, spricht sie ihn
aus: "Ist Dir klar, dass wir uns mit dem heutigen Abend seit genau 6
Monaten treffen?"
Stille.
Susanne kommt die Stille sehr laut vor. Sie denkt: "Oje, ob es ihn
nervt, dass ich das gesagt habe? Vielleicht fühlt er sich durch unsere
Beziehung eingeschränkt, oder er fühlt sich von mir in eine Pflichtrolle
gedrängt"
Und Gerhard denkt sich "Wow, 6 Monate."
Und Susanne denkt sich: "Moment, ich bin gar nicht sicher, ob ich so
eine Art Beziehung will. Manchmal hätte ich lieber mehr Freiraum, ich
werde Zeit brauchen, mir zu überlegen, ob ich so weiter machen will. Ich
meine, wo führt uns das hin? Wird es immer so weiter gehen, oder
schreiten wir auf eine Ehe zu? Vielleicht sogar auf Kinder? Darauf,
unser restliches Leben miteinander zu verbringen? Bin ich bereit, diese
Verpflichtung einzugehen? Kenne ich diesen Menschen überhaupt?
Und Gerhard denkt sich: "Hm, das heisst, es war ... mal sehen ... Februar
... als wir anfingen, uns zu treffen, das war gleich nachdem ich das Auto
beim Service hatte, das heisst ... wie ist der Kilometerstand? Au weia!
Die Karre ist überfällig für einen Ölwechsel!"
Und Susanne denkt sich: "Er ist besorgt. Ich sehe es in seinem Gesicht.
Vielleicht war mir nicht ganz klar, wie er die Sache sieht. Vielleicht
will er mehr von unserer Beziehung, mehr Intimität, eine tiefere
Bindung, vielleicht hat er, sogar schon vor mir, gespürt, dass ich mich
zu sehr zurückhalte. Ja, das ist es. Deswegen spricht er so selten über
seine Gefühle. Er hat Angst, zurückgewiesen zu werden."
Und Gerhard denkt sich: "Die sollen sich auf jeden Fall noch einmal das
Getriebe ansehen. Ist mir völlig egal, was diese Deppen sagen, die
Schaltung funktioniert noch immer nicht richtig. Und diesmal können sie
es auch nicht aufs kalte Wetter schieben. Wir haben 30 Grad, und das
Ding hier schaltet sich wie ein Lastwagen von der Müllabfuhr. Und ich
habe diesen inkompetenten Gaunern 1200 Mark bezahlt.
Und Susanne denkt sich: "Er ist sauer. Ich kann's ihm nicht übel nehmen,
ich wär's auch. Ich fühle mich so schuldig, ihm das anzutun, aber ich
kann nichts für meine Gefühle, ich bin einfach unsicher.
Und Gerhard denkt sich: "Wahrscheinlich werden sie sagen, es gibt nur 90
Tage Garantie, diese Säcke!"
Und Susanne denkt sich: "Wahrscheinlich bin ich viel zu idealistisch,
und warte auf einen Ritter auf einem weissen Pferd, während ich hier
neben einem superlieben Menschen sitze, einem Menschen, mit dem ich gern
zusammen bin, um den ich mich wirklich sorge und der sich wirklich um
mich sorgt. Einem Menschen, der wegen meiner selbstherrlichen
Schulmädchenfantasien leiden muss.
Und Gerhard denkt sich: "Garantie? Die reden von Garantie? Können sie
haben, ich nehme ihre Garantie und stecke sie ihnen in ..."
"Gerhard", sagt Susanne laut.
"Was?" sagt Gerhard erschrocken.
"Bitte quäl dich nicht so", sagt sie, während sich ihre Augen mit Tränen
füllen. "Vielleicht hätte ich niemals .. Oh Gott, ich fühle mich so ..."
(Sie verstummt, schluchzt).
"Was?" sagt Gerhard.
"Ich bin so dumm", schluchzt Susanne, "Ich meine, ich weiss, dass es nie
einen Ritter geben wird. Es ist so dumm. Weder einen Ritter noch ein
Pferd."
"Es gibt kein Pferd?", fragt Gerhard.
"Du denkst auch, dass ich dumm bin, oder?", sagt Susanne.
"Nein!", sagt Gerhard, froh, endlich eine richtige Antwort zu haben.
"Die Sache ist die ... es ist einfach so ... ich brauche ein wenig
Zeit", sagt Susanne.
(Es entsteht eine 15-sekündige Pause, in der Gerhard versucht, so
schnell er kann mit einer sicheren Antwort aufzuwarten. Endlich fällt
ihm etwas ein, das funktionieren sollte.)
"Ja", sagt er.
(Susanne, tief bewegt, berührt seine Hand)
"Oh Gerhard, denkst du wirklich so darüber?" fragt sie.
"Worüber?" fragt Gerhard.
"Über ein wenig mehr Zeit" sagt Susanne.
"Oh", sagt Gerhard, "Ja."
(Susanne dreht sich zu ihm und sieht ihm tief in die Augen, wodurch er
schrecklich nervös darüber wird, was sie als nächstes sagen wird,
besonders, wenn darin ein Pferd vorkommen sollte. Endlich spricht sie.)
"Danke, Gerhard", sagt sie.
"Ich danke Dir", sagt Gerhard.
Dann bringt er sie nach Hause, wo sie sich auf ihr Bett legt, eine von
Konflikten geschüttelte, gequälte Seele, und bis in den Morgen weint.
Gerhard fährt nach Hause, holt sich eine Tüte Chips, dreht den Fernseher
auf, und wird schnell von der Wiederholung eines Tennismatchs zwischen
zwei Neuseeländern, von denen er noch nie was gehört hat, in den Bann
gezogen. Eine leise Stimme irgendwo in seinem Kopf sagt ihm, dass heute
im Auto höchstwahrscheinlich etwas wirklich wichtiges passiert ist, aber
er ist sicher, dass er niemals verstehen würde, was das war, also
beschliesst er, nicht weiter darüber nachzudenken.
Am nächsten Tag wird Susanne ihre beste Freundin anrufen, vielleicht
sogar noch eine, und mit ihr 6 Stunden lang über die ganze Sache reden.
In sorgfältiger Detailarbeit werden sie alles was sie sagte, und auch
alles was er sagte, analysieren, jedes Wort, jeden Ausdruck, jede Geste,
um Nuancen in der Bedeutung des gesagten zu finden, und um jede mögliche
Variante durchzugehen. Das ganze wird sich wochenlang, wenn nicht
monatelang hinziehen, ohne jemals in einer plausiblen Schlussfolgerung
zu enden, aber auch, ohne jemals langweilig zu werden.
Irgendwann während dieser Zeit wird Gerhard, während eines Squashmatches
mit einem Freund, der sie beide kennt, kurz innehalten und fragen
"Peter, hat Susanne mal ein Pferd gehabt?"
Und das ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen.